Ich Gehör Nur Mir – Elisabeth

ZWEITER AKT

VOR DER KATHEDRALE IN BUDA

Am 8.Juni 1867 erhalten Elisabeth und Franz-Joseph in Budapest die ungarische Königswürde. Auf dem sonnenüberfluteten Platz vor der Kathedrale, in der die Übergabe der Stephanskrone erfolgt, wartet eine große Menge auf das Ende der Messe und das Erscheinen des Kaiserpaars. Aus der Kirche, die von der Bühne aus gesehen im Zuschauerraum zu denken ist, klingt gedämpfter Orgelklang. Lucheni kommt mit einem Koffer und baut immitten der Menge einen improvisierten Andenkenstand auf.

Kitsch

Lucheni:

    Kommen Sie näher, meine Damen und Herren!

  • Während da drin in der Kathedrale an diesem

    denkwürdigen 8. Juni 1867 der Kaiser von Österreich und die

    überirdisch schöne Elisabeth König und Königin von Ungarn

    werden.. haben Sie die einmalige Gelegenheit, ein wertvolles

    Erinnerungsstück zu erwerben. Alles sehr billig!
    Bitte, treten Sie näher!

Rhythmuswechsel.

    Wie wär’s mit diesem Bild:

  • Elisabeth als Mutter mit Rudolf ihrem Sohn –

    Und hier: Ist das nicht nett?

    Die Kaisers feiern Weihnacht im festlichen Salon.

    Auf diesem Glas sehen wir

    das Hohe Paar in Liebe zugeneigt.

    Einen Teller hab’ ich auch,

    der Elisabeth beim Beten in der Hofkapelle zeigt.

    Nehmt ein hübsches Souvenir mit

    aus der kaiserlichen Welt!

    Alles innig, lieb und sinnig, so wie es euch gefällt:

    Kitsch!
    Kitsch!
    Kitsch!

    Verzeiht nicht das Gesicht!
    Tut bloß nicht so,

    als wärt ihr an der Wahrheit interessiert.

    Die Wahrheit gibt’s geschenkt, aber keiner will sie haben,

    weil sie doch nur deprimiert.
    Elisabeth ist „in”,

    man spricht von ihr seit über hundert Jahr’n.

    Doch wie sie wirklich war,

    das werdet ihr aus keinem Buch

    und keinem Film erfahr’n –

    Schon gar nicht von mir!

    Was ließ ihr die Vergötzung?
    Was ließ ihr noch der Neid?

    Was blieb von ihrem Leben als Bodenschatz der Zeit?

    Kitsch!
    Kitsch!
    Kitsch!

    Ich will euch was verraten:

    Eure Sisi war in Wirklichkeit ein mieser Egoist.

    Sie kämpfte um den Sohn, um Sophie zu beweisen,

    daß sie die Stärk’re ist.
    Doch dann schob sie ihn ab.

    Ihr kam’s ja darauf an, sich zu befrei’n.

    Sie lebte von der Monarchie und richtete sich in der

    Schweiz ein Nummernkonto ein.

    Aber was red ich!

    Man hört nur, was man hör’n will,

    Drum bleibt nach etwas Zeit

    von Schönheit und von Scheiße,

    von Traum und Wirklichkeit nur Kitsch.

    Kitsch!
    Kitsch!
    Kitsch!

Mit einer Geste läßt Lucheni den Vorhang aufgehen. Als riesige Kitschpostkarte sehen wir ungarisches Volk auf dem sonnenüberfluteten Platz vor der Kathedrale., in der am 8. Juni 1867 Franz Joseph und Elisabeth die ungarische Königswürde erhalten.

Ein Ungarisches Mädchen:

    Die Kirchentür geht auf!

Ein Junger Ungar:

    Die Messe ist vorbei!

Eine Bürgersfrau:

    Sie kommen!

Einer beginnt zu singen, die Menge stimmt rasch mit ein.

Ein Junger Ungar:

    Ungarns Elend ist zu Ende –

  • Éljen, Éljen, Erzsébet!

Männer:

    Sie bezwang die Widerstände –

  • Éljen. Éljen, Erzsébet!

Menge:

    Ungarns Elend ist zu Ende –

Fort mit allem, was uns trennte:

Éljen, Éljen, Erzsébet!

Lucheni kommentiert die Begeisterung als kritischer Beobachter.

Lucheni:

    Ungarn, Elisabeth hat euch befreit!

  • Sie zog eure Karte aus dem Kartenhaus der Welt.

    Dem Nationalismus gehört die neue Zeit.

    Er wird dafür sorgen, daß das Kaiserreich zerfällt!

Menge:

    Sie wird Ungarns Wunden heilen…

Lucheni:

    Anarchie und Völkerchaos!

Menge:

    … Éljen, Éljen, Erzsébet!

Lucheni:

    Österreich zerfällt!

Menge:

    Ungarns aufstieg, Habsburgs Ende…

Lucheni:

    Das Ende der alten Welt!

Menge:

    … Éljen, Éljen, Erzsébet!

Die Menge weicht zurück. Die Totentanzgruppe eskortiert Elisabeth und Franz Joseph zur Kutsche des Todes. Die Todesengel schützen das einsteigende Kaiserpaar vor der Menge, als sei diese feindselig.

Männer:

    Elisabeth! Elisabeth! Elisabeth! Elisabeth!

Frauen:

    Elisabeth! Elisabeth!

Lucheni:

    Elisabeth!

EIN SCHLAFZIMMER IN DER HOFBURG

Die Kutsche des Todes aus dem vorigen Bild, jedoch in grotesker Verzerrung. Es ist Nacht. Die Kutsche öffnet sich auf der ganzen Breitseite. In ihrem Inneren sieht man den 9jährigen Rudolf. Er schläft in einem unwirklich großen Kaiserbett, wälzt sich wie im Fieber, schreckt hoch, wird wach. Er ruft nach seiner Mutter.

Mama, Wo bist Du

Rudolf als Kind:

    Mama?… Mama!

  • Mama, wo bist du? Kannst du mich hören?

    Mir ist so kalt, nimm mich in den Arm.

    Jeder sagt, ich darf dich nicht stören.

    Warum kann ich nicht bei dir sein?

    Mama, mein Zimmer ist nachts so finster.

    Jetzt bin ich wach und fürchte mich.

    Niemand streicht mir übers Haar, wenn ich wein.

    Warum läßt du mich allein?

Auf einmal steht der Tod neben Rudolf.

Tod:

    Sie hört dich nicht. Ruf nicht nach ihr!

Rudolf als Kind:

    Wer bist du?

Tod:

    Ich bin ein Freund.

  • Wenn du mich brauchst, komm’ich zu dir –

Rudolf als Kind:

    Bleib da!

Tod:

    Ich bleib’ dir nah!

Rudolf als Kind:

    Wenn ich mich anstreng’,

  • kann ich ein Held sein.

    Gestern schlug ich eine Katze tot.

    Ich kann hart und bös’ wie die Welt sein,

    doch manchmal wär’ ich lieber gern weich.

Der Tod nimmt Rudolf in den Arm.

    Ach, Mama,

  • ich möchte immer bei dir sein.

    Doch fährst du fort, nimmst du mich nicht mit.

    Und wenn du da bist, schließt du dich ein.

    Warum läßt du mich allein?

Rudolf löst sich vom Tod. Dieser zieht sich zurück. Die Kutsche verschwindet. Verwandlung.

EINE NERVENKLINIK IN DER NÄHE VON WIEN

In einem Lichtspot eine einsame Geigenvirtuosin auf der sonst dunklen Bühne. In einem anderen Spot Lucheni.

Lucheni:

    Stupido Bambino! Man kann von einer Kaiserin

    nicht verlangen, daß sie sich um Kinderkram kümmert.

    Sie hat Pflichten. Muß zu den Armen und Kranken. Am

    liebsten besucht sie die armen Kranken… im Irrenhaus.

Lichtwechsel. Im Besuchersaal der Landesirrenanstalt am Bründfeld warten Ärzte, Irrenwärter, der Anstaltsgeistliche, Krankenschwestern und eine Anzahl von Patienten auf die Ankunft der Kaiserin, die sich kurzfristig angesagt hat.

Elisabeth betritt in Begleitung ihrer Hofdame den Saal. Ärzte und Wärter verbeugen sich tief. Der Direktor und der Anstaltsgeistliche bemühen sich, der Kaiserin ihre Ergebenheit zu demonstrieren. Die Patienten sind mit verschiedenen Handarbeiten beschäftigt.

Direktor:

    Majestät!

Anstaltsgeishtlicher:

    Welche Ehre…

Das geistesgestörte Fräulein Windisch in einer der hinteren Reihen der Patienten zeigt besonderes Interesse an der Besucherin und wird von einer resoluten Schwester mißtrauisch beobachtet. Elisabeth unterbricht ungeduldig das Begrüßungsritual.

Elisabeth:

    Ich möchte die Patienten sehen.

Der Direktor und der Anstaltsgeistliche übernehmen die Führung. Ausgesuchte Patienten werden Elisabeth vorgestellt. Wärter sorgen für den reibungslosen Ablauf der Präsentation. Der geisteskranke Maler Kratky zeigt Elisabeth ein Gemälde, auf dem dargestellt ist, daß alles Lebendige vom Tod anderer Wesen lebt. Fräulein Windisch beobachtet die Visite mit wachsendem Mißfallen und unterbricht sie schließlich…

Fräulein Windisch:

    Frechheit! Es ist unerhört. Was maßt

    die Frau sich an! Das ist doch nicht die Kaiserin.

    Wie kann sie sich unterstehn? Sie ist verrückt!

    Elisabeth bin ich!

Die Geisteskranke wird in eine Zwangsjacke gesteckt. Sie wehrt sich empört.

Elisabeth:

    Lassen Sie sie los! Ich möchte mit ihr sprechen…

  • Sieh mich an! Erkennst du nicht die Kaiserin Elisabeth?

Fräulein Windisch: (versetzt, fast gleichzeitig)

    Sieh mich an! Erkennst du nicht die Kaiserin Elisabeth?

Elisabeth:

    Verneige dich vor mir!

Fräulein Windisch:

    Unverschämte Lügnerin, Betrügerin!

Die Anderen Patienten: (fast gleichzeitig)

    Lügnerin! Betrügerin!

Fräulein Windisch:

    Auf die Knie mit dir!

  • Bringt sie in ein Irrenhaus! Schafft sie hinaus!

Die Anderen Patienten: (teilweise gleichzeitig)

    Ins Irrenhaus! Irrenhaus!

Fräulein Windisch:

    Ich befehle es!

Die Anderen Patienten: (teilweise gleichzeitig)

    Sie muß verrückt sein,

  • sie tut ja als wär in dem Wahnsinn ein Sinn!

Die Patienten geraten außer Kontrolle. Ärzte und Wärter versuchen, Herr der Situation zu bleiben. Der Direktor und der Geistliche beschwören Elisabeth, sich zu entfernen. Sie aber weigert sich zu gehen. Die Patienten werden fortgeschafft. Elisabeth bleibt zurück.

Elisabeth:

    Ich wollt’, ich wäre wie du.

  • In der Zwangsjacke statt im Korsett.

    Dir schnürt man nur den Körper ein,

    mir fesselt man die Seele.

    Ich habe gekämpft

    und mir alles ertrotzt.

    Und was hab’ ich erreicht?

    Nichts, nichts, gar nichts!

    Denn die einzige Lösung wär der Wahnsinn

    und die einzige Rettung wär der Sturz.

    Es lockt mich der Abgrund.

    Ich möchte mich fallen lassen –

    warum schaudert mir vor dem Sprung?

    Wär ich nicht verdammt dazu

    Elisabeth zu sein, dann wär ich Titania.

    Und würde lächeln, wenn man sagt: Sie ist verrückt!

    Ich steh auf dem Seil und die Angst macht mich krank,

    dann schau ich nach unten, seh ich

    nichts, nichts, gar nichts!

    Ich taste mich weiter mit suchendem Schritt

    und fürchte mich immer vor dem

    nichts, nichts, gar nichts.

    Wirklich frei macht wahrscheinlich nur der Wahnsinn.

    Doch zum Wahnsinn fehlt mir der Mut.

    So spiel ich die Starke und tu was ich tu,

    als wär dieses Leben mehr als Täuschung, Irrtum, Betrug.

    Als wär nichts, nichts, gar nichts genug.

Elisabeth geht ab. Langsam verlöscht das Licht.

SALON DER ERZHERZOGIN SOPHIE IN DER HOFBURG

In einem Lichtspot Lucheni.

Lucheni:

    Ansonsten geht’s ihr gut.

  • Der Kaiser hört auf ihren Rat.

    Er setzt im Spiel der Macht die Dame vor den Turm.

    Die Schwiegermutter hält

    den Spielverlauf für desolat

    und sammelt ihre treue Schar zum letzten Sturm.

In den Gemächern der Erzherzogin haben sich Mitglieder der weitgehend entmachteten Hofkamarilla – Kardinalerzbischof Rauscher, Fürst Schwarzenberg, Baron Hübner, Baron Kempen und Graf Grünne – zu einer Lagebesprechung mit Erzherzogin Sophie versammelt.

Sophie:

    Ich bin empört!

  • Die Monarchie wird zerstört.

    Elisabeth wird stärker als ich.

    Die Frage heißt: Wir oder sie!

Grünne:

    Die Lage ist ernst wie noch nie.

Rauscher:

    Es muß was geschehn –

Schwarzenberg:

    Und zwar gleich…

Alle:

    … sonst wird die Kaiserin zu einflußreich.

Rauscher:

    Ich habe erfahr’n,

  • daß sie die heilige Kirche schmäht.

    Sie ist nicht religiös,

    verhöhnt sogar das Schulgebet.

Kempen:

    Sie hat auch gesagt,

  • das Konkordat sei ihr suspekt.

Rauscher:

    Ich fürchte, der Kaiser

  • durchschaut noch nicht, was sie bezweckt!

Sophie:

    Die Frage heißt:

Alle:

    Wir oder sie! Es geht um die Monarchie.

Schwarzenberg:

    Es muß was passier’n.

Hübner:

    Aber was?

Grünne:

    Auf unsern Kaiser ist jetzt kein Verlaß.

Schwarzenberg:

    Es ist unerträglich,

  • wie sie die Ungarn protegiert.

    Ein Anführer ist zum Staatsminister avanciert.

Kempen:

    Sie kennt liberale und liest verbot’ne Literatur.

Schwarzenberg:

    Wo soll das noch hinführ’n,

  • sie herrscht wie eine Pompadour.

Sophie, Grünne, Schwarzenberg, Rauscher:

    Wir oder sie!

  • Die Lage ist ernst, wie noch nie.

    Es muß was gescheh’n und zwar gleich.

    Sonst wird die Kaiserin zu einflußreich.

Hübner: (gleichzeitig)

    Ihr Einfluß hier gefährdet die Geschäfte an der Börse.

Kempen: (gleichzeitig)

    Statt Goethe oder Schiller

  • rezitiert sie Heine Verse.

Grünne:

    Ich kann ja den Kaiser versteh’n.

Sophie:

    So?

Grünne:

    Nun ja, als Mann…

Hübner & Kempen:

    … kann man…

Schwarzenberg & Rauscher:

    Man kann…

Alle: (außer Sophie)

    … den Kaiser verstehn.

Grünne: (vielsagend)

    Sie ist eben wirklich schön.

Sophie:

    Schön sind auch andere.

Schwarzenberg:

    O, ich versteh…

Grünne:

    Ist das ein Plan?

Rauscher:

    Eine Idee?

Sophie:

    Feuer muß man mit Feuer bekämpfen!

Hübner:

    Und eine Frau…

Alle:

    … mit einer Frau…?!

Sophie:

    Man muß den Kaiser von der Hörigkeit befrei’n!

Hübner:

    Er müßte erfahren,

  • daß es nicht nur die Eine gibt.

Grünne:

    Es ist an der Zeit,

  • daß er mal eine andre liebt.

Schwarzenberg:

    Man müßte für ihn,

  • was ganz intimes arrangier’n.

Grünne:

    Ich selbst übernehm’ es, ihm eine Circe zuzuführ’n.

Rauscher:

    Vom moralischen Standpunkt

  • muß ich heftig gegen diesen Vorschlag protestieren.

    Aber vom politischen halte ich ihn für ausgezeichnet.

Sophie:

    Die Frage heißt:

Alle:

    Wir oder sie! Es geht um die Monarchie.

    Es muß was gescheh’n…

Die Szene wird dunkel, während sich die Herren von der Erzherzogin Sophie verabschieden.

Verwandlung.

DAS WOLF’SCHE ETABLISSEMENT IN WIEN

Lucheni in einem Spot auf der Vorderbühne.

Lucheni:

    Jeder Mann von Adel schwärmt für die Kultur.

  • Er mag es wahr und gut und schön.

    Es hebt und es verzaubert die männliche Natur

    in Wien am Abend auszugehn.

    Zum Glück gibt es genügend Theater in der Stadt,

    und ist dort grade nicht Saison,

    und hat man auch die Mädels vom Hofballett schon satt,

    dann geht man in Frau Wolfs Salon.

Das berühmteste Bordell der Stadt – nur für gehobene Kundschaft. Überwacht und kommandiert von Frau Wolf präsentieren sich in dem plüschigen Salon mehrere Mädchen den Freiern. Frau Wolf begrüßt die Gäste.

Nur Kein Genieren

Frau Wolf:

    Nur kein Genieren! Warum sich zieren

  • in diesem Etablissement?

    Raus mit den Kröten, und nicht erröten!

    Wir sorgen fürs Amüsement.

Frau Wolf & Mädchen:

    In Frau Wolfs Salon

  • sagt man nie Pardon.

    Wenn der Drang sie übermannt,…

Frau Wolf:

    … werden sie hier fulminant entspannt.

Lucheni:

    So viele nette Damen

  • in einem netten Rahmen…

Frau Wolf:

    Hier finden Sie, wovon man träumen kann.

  • Marie ist dumm und drollig,

    Helen ist rund und mollig,

    Tatjana fängt im Bett zu fluchen an.

    Für Herrn, die gerne schmusen,

    Grit mit dem weichen Busen.

    Und hier Madeleine empfehl ich jedem Mann…

Lucheni:

    … den die Gefahr noch fasziniert.

  • Die Kleine hat sich infiziert.

Frau Wolf & Mädchen:

    Nur kein Genieren! Warum sich zieren

  • in diesem Etablissement?

    Raus mit den Kröten, und nicht erröten!

    Wir sorgen fürs Amüsement.

    In Frau Wolfs Salon

    sagt man nie Pardon.

    Wenn der Drang sie übermannt,…

Frau Wolf:

    … werden Sie fulminant entspannt!

Die Freier verschwinden mit einigen Mädchen. Graf Grünne erscheint. Frau Wolf begrüßt ihn als hochgestellten Kunden besonders untertänig. Sie zeigt ihm die gerade verfügbaren Mädchen. Er geht von einer zur anderen. Lucheni kommentiert.

Lucheni:

    Nicht jeder kommt persönlich.

  • Es ist nicht ungewöhnlich,

    daß ein Vertrauter seinen Herrn vertritt.

    Statt selbst hier anzusteigen,

    läßt er sich alle zeigen

    und nimmt für seinen Herrn die Schönste mit.

    Der hier kommt von ganz oben,

    und er ist sehr zu loben.

    Er trifft die Wahl mit Kennerblick.

Graf Grünne entscheidet sich für die infizierte Madeleine, steckt Frau Wolf einen Geldschein zu und geht mit Madeleine ab.

    … Die Kleine wirkt so fiebrig heiß,

  • aus einem Grund, den er nicht weiß…

Lucheni, Mädchen, Frau Wolf & Freier:

    Nur kein Genieren! Warum sich zieren

  • in diesem Etablissement?

    Raus mit den Kröten, und nicht erröten!

    Wir sorgen fürs Amüsement.

    In Frau Wolfs Salon

    sagt man nie Pardon.

    Wenn der Drang sie übermannt,

    werden Sie hier fulminant entspannt!

Lucheni:

    Manchmal ist das Resultat frappant!

Lichtwechsel. Verwandlung.

ELISABETHS GYMNASTIKZIMMER IN SCHÖNBRUNN

Unter den Turnringen, die vom Türsturz hängen, liegt Elisabeths leblose Gestalt am Boden. Gräfin Esterházy-Liechtenstein entdeckt das Unglück und schreit entsetzt auf.

Gräfin Esterházy-Liechtenstein:

    Hilfe, ein Arzt! Schnell, schnell.

  • Ihre Majestät die Kaiserin! Sie ist gestürzt.

Zwei Zofen eilen herbei.

    Holen Sie Doktor Seeburger, er ist bei der Erzherzogin! – Sie

  • bleiben da. Helfen Sie mir, die Kaiserin auf die Ruhebank zu legen.

Die Gräfin Esterházy-Liechtenstein und die Zofen eilen zu der Bewußtlosen und heben sie auf eine hölzerne Liege. Dabei kommt Elisabeth wieder zu sich.

Elisabeth:

    Was ist passiert…?

Gräfin Esterházy-Liechtenstein:

    Gott sei dank, sie ist wieder bei sich!

  • Haben Sie Schmerzen, Majestät?

Elisabeth:

    Nein. Es geht schon wieder…

Gräfin Esterházy-Liechtenstein:

    Da kommt der Arzt. –

Der Arzt tritt auf. Man sieht nicht sein Gesicht.

Arzt:

    Was ist geschehn?

Gräfin Esterházy-Liechtenstein:

    Sie lag da unter den Ringen, ohnmächtig.

  • Es muß ihr schwindelig geworden sein. Kein

    Wunder, sie ißt ja nicht. Und dann diese Turnerei. Die

    Erzherzogin war immer dagegen, und ich auch. Aber die

    Kaiserin hört ja nicht auf gutgemeinte Ratschläge.

Arzt:

    Lassen Sie uns allein!

Die Gräfin Esterházy-Liechtenstein und die Zofe entfernen sich. Der Arzt tritt an die Holzbank, auf der Elisabeth liegt und beginnt mit der Untersuchung.

Arzt:

    Ihr Puls…

Elisabeth:

    Es geht schon besser.

Arzt:

    Die Stirn ist heiß.

Elisabeth:

    Es fehlt mir nichts!

Arzt:

    Der Lidrand beinah weiß.

  • Wenn ich mich nicht irre –

    und ich irre nie –

    ist dies die gewisse Maladie.

    Eine Infektion, Majestät. Nicht lebensgefährlich, aber

    unangenehm. Das, was man eine französische Krankheit

    nennt…

Mit einem Ruck richtet sich Elisabeth auf.

Elisabeth:

    Das ist infam! Was fällt ihnen ein?

  • Was Sie da sagen ist ganz unmöglich!

Arzt:

    Unmöglich? Warum? Auch Kaiser sind schwach!

Elisabeth:

    Mein Mann ist mir treu!

Arzt:

    Das ist ein Irrtum.

Elisabeth:

    Gott, wen das stimmt.

  • Hat mich mein Mann

    tief in den Schmutz gezogen!

Arzt:

    Das allerdings.

Elisabeth:

    Ich werde ihn hassen,

  • werd’ ihn für immer verlassen!

    Noch besser: ich bringe mich um!

Arzt:

    Tu es, Elisabeth! Ich freu’ mich auf dich.

Erst jetzt blickt sie dem Arzt ins Gesicht und erkennst, daß es der Tod ist.

Elisabeth:

    Du?!!!

Er streift alle Mimikry ab und ist wieder ganz der Verführer.

Tod:

    Das ist vielleicht die letzte Chance.

  • Ergreif sie, flieh mit mir!

    Komm tanz mit mir

    den letzten Tanz!

    Laß alles hinter dir!

Elisabeth:

    Nein, ich bleib da!

  • Mein Mann hat mir in Wahrheit

    einen Gefallen getan.

    Wo seine Moral zu Ende ist,

    fängt meine Freiheit an.

    Was mich nicht umbringt,

    macht mich stark.

    Ich werde es allen beweisen.

    Seine Schuld gibt mir das Recht,

    die Ketten zu zerreißen.

Sie reißt die Kette vom Hals, sie Franz Joseph ihr vor der Hochzeit geschenkt hat und wirft sie dem Tod zu.

    Geh!

Der Tod sieht, daß er diesmal nicht weiterkommt und geht ab.
Verwandlung.

Auf einer Lichtinsel in der Hofburg erörtern Vertraute des Kaisers in gedämpftem Ton die Lage. Franz Joseph sitzt schreibend an seinem Schreibtisch.

Rastlose Jahre

Adjutant:

    Wie ist sie zu heilen?

Leibarzt, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Nur kein Aufsehn!

Leibarzt:

    Ich riet zu Luftveränderung.

Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Strenges Schweigen!

Obersthofmeister:

    Sie will nach Madeira…

Adjutant, Leibarzt & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Sie muß fortgehn!

Adjutant:

    Das ist dem Kaiser viel zu weit.

Leibarzt, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Sich nicht zeigen!

Kammerherr:

    Das wird sie nicht halten.

Leibarzt, Obersthofmeister & Adjutant: (gleichzeitig)

    Nur kein Aufsehn!

Leibarzt:

    Grad drum will sie ja dorthin.

Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Strenges Schweigen!

Franz Joseph:

    Mein armer Engel, ich hoffe,…

Leibarzt, Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Nur kein Aufsehn!

Franz Joseph:

    … du leidest nicht zu sehr…

Leibarzt, Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Strenges Schweigen!

Franz Joseph:

    … Ich zähl die Tage bis…

Leibarzt, Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Nur kein Aufsehn!

Franz Joseph:

    … zu deiner Wiederkehr…

Leibarzt, Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Strenges Schweigen!

Stumm schreibt Franz Joseph weiter, während an anderer Stelle der Bühne Elisabeth in Reisekleidung über die Bühne eilt. Ihr folgen mit leichtem Gepäck und gespannten Sonnenschirmen sichtlich erschöpft Hofdamen und Zofen.

Hofdamen & Zofen:

    Nie kommt sie zur Ruhe,

  • hetzt uns von Ort zu Ort.

    Kaum sind wir wo angekommen,

    will sie schon wieder fort.

    Heut auf steilen Pfaden,

    morgen zurück ans Meer.

    Atemlos mit wunden Füßen

    keuchen wir hinterher.

    Acht Stunden auf den Beinen,

    immer bergab, bergauf.

    Und auch wenn wir müde werden,

    immer im Dauerlauf.

Franz Joseph, Leibarzt, Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Wo ist sie jetzt? Was hat sie vor?

  • Wohin will sie nun ziehn?

Hofdamen & Zofen:

    Nicht mal auf Madeira

  • hält sie es lange aus.

    Will nach Korfu, Pest und England,

    nur nicht zurück nachhaus.

Franz Joseph, Leibarzt, Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Wie geht es ihr? Wen sieht sie noch?

  • Wann kommt sie mal nach Wien?

Während sich die Hofdamen und Zofen weiter schleppen, nimmt Elisabeth an einem Frisiertisch Platz. Ihre Friseuse Feifalik kämmt sie, während Lucheni auf die Bühne gelaufen kommt und Elisabeth einen Spiegel vorhält.

Lucheni:

    Spieglein, Spieglein in der Hand, zehn Jahre ist sie

  • jetzt rumgerannt. Da wird man doch mal fragen dürfen:

    Ist sie noch immer jung – oder…?

Elisabeth läßt sich den Kamm zeigen. Lucheni bemerkt, daß die Friseuse ein ausgekämmtes Haar in der Hand behält und hinter ihrem Rücken versteckt. Er packt sie am Handgelenk und entwindet ihr das Haar.

Lucheni:

    Costa stai combinando? – Aha! Ein graues Haar.

  • Scocciatura!

Lucheni, Elisabeth und Friseuse ab. Der Frisiertisch verschwindet.

Lichtwechsel.

Ein sichtlich gealterter Franz Joseph steht wie zuvor an seinem Schreibpult. Die Vertrauten des Kaisers tauschen ihre Informationen über die fern von Wien weilende Kaiserin aus.

Franz Joseph:

    Seit Mama tot ist, mein Engel…

Leibarzt, Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Sie kauft Pferde.

Franz Joseph:

    … fehlst du mir noch viel mehr…

Leibarzt, Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Sie lernt Griechisch.

Franz Joseph:

    … Rudolf wird achtundzwanzig…

Leibarzt, Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Schreibt Gedichte,…

Franz Joseph:

    … und er sekkiert mich sehr…

Leibarzt, Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    … turnt und hungert.

Erneut kommen Elisabeth und ihr Gefolge über die Bühne geeilt.

Hofdamen & Zofen:

    Nie kommt sie zur Ruhe,

  • hetzt uns von Ort zu Ort.

    Kaum sind wir wo angekommen.

    Will sie schon wieder fort.

Franz Joseph, Leibarzt, Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Wo ist sie jetzt? Was hat sie vor?

  • Wohin will sie nun ziehn?

Hofdamen & Zofen:

    Heut auf steilen Pfaden,

  • morgen zurück ans Meer.

    Atomlos mit wunden Füßen

    keuchen wir hinterher.

Franz Joseph, Leibarzt, Adjutant, Obersthofmeister & Kammerherr: (gleichzeitig)

    Wie geht es ihr? Wen sieht sie noch?

  • Wann kommt sie mal nach Wien?

Wieder springt Lucheni der Kaiserin in den Weg und hält ihr seinen Spiegel vors Gesicht. Hofdamen und Zofen gehen ab.

Lucheni:

    Achtzeh Jahre läuft sie schon panisch der Angst

  • vor dem Nichts davon. Da wird man doch mal fragen

    dürfen: Ist sie immer noch schön – oder…?

Elisabeth greift nach dem Spiegel und zerbricht ihn, bevor sie von der Bühne eilt. Lucheni lacht ihr höhnisch hinterher.

    É una vera mimosa. Und reitet doch wie der Teufel.

    Immer vorneweg! Ecco!

Verwandlung. Lucheni zeigt in Richtung Publikum. Von dort hört man das Dröhnen galoppierender Pferdehufe und das Kläffen einer Hundemeute. Alle Gruppen auf der Bühne und der Rest des Ensembles blicken in Richtung, in die Lucheni zeigt. Gespannt verfolgen sie eine imaginäre Treibjagd im englischen Eaton Neston.

Alle:

    Da sind sie und jagen durch Dickicht und Graben und

  • über Fluß und Gatter weg.

    Wie fliegen die Mähnen, wie schäumen die Mäuler, wie

    spritzt der aufgeworf’ne Dreck!

Lucheni:

    Da kommt die. Sie reitet gleich hinter der Meute

  • und macht vor keiner Hürde halt!

Alle:

    Vorüber und weiter, schon sind sie verschwunden

  • hinterm Gebüsch, hinter dem Wald.

Lucheni:

    Da sind sie schon wieder! Der Captain ganz vorne.

  • Elisabeth jagt hinterher.

Alle:

    Jetzt kommt eine Mauer. Die Pferde sie Zögern.

  • Doch seht, der Captain wagt den Sprung!

    Sein Pferd streift die Steine. Hart stürzt er zu Boden.

    Und schon kommt die Verfolgerin.

    Gibt ihrem Pferd die Sporen.

    Sprengt zu auf die Mauer und lacht dabei.

    O Gott, sie springt!

Lucheni:

    Und schon ist sie vorbei!

Alle ab. Lichtwechsel. Verwandlung.

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